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Sieht aus wie große, lange Spinatblätter - Ein Tag im September
zeitloses Essay eines Tages im September 2000 in Chengdu

       
     

Es ist Sonntag Abend. Es hätte auch ein Montag sein können oder ein Donnerstag.

Ich setze mich auf einen großen lackierten, schmierigen Holzstuhl. Außer einem weiblichen Gast sind noch fünf Bedienstete in diesem Restaurant, das wie eine Garage aussieht, nur etwas größer, eine Garage für einen LKW vielleicht.
Nach vorne ist das große Tor geöffnet. Ich setze mich so, daß ich auf die Straße sehen kann. Sie ist sechsspurig, zwei Spuren für die Autos, eine Außenspur für Fahrräder.
Es herrscht reger Verkehr, Auto an Auto. Auch viele Fahrräder fahren hier entlang. Oft sieht man auf den Gepäckträgern noch jemanden sitzen, die Chinesen fahren gern zu zweit auf einem Fahrrad. Außerdem passieren Fahrradtaxis (Rikschas) und Dreiradfahrradkarren das Restaurant, die alles transportieren, was auf ein Fahrrad passen kann. -

Welche Gegenstände man dann manchmal auf diesen Karren durch die Gegend fahren sieht, ist unvorstellbar. Und wenn es nicht die Gegenstände selbst sind, dann ist es deren Anzahl auf nur einem Fahrrad. Anfangen könnte man ganz harmlos mit Gemüse. Interessanter sind allerdings schon Tiere, meist Hühner und Gänse. Ihnen werden die Beine zusammengebunden und dann werden sie in Körben zu Dutzenden, auf engstem Raume zusammengepfercht, durch die Gegend gefahren und verkauft. Aber auch Bäume werden auf Fahrrädern transportiert, große Bäume, die vorn und hinten und an den Seiten herüberhängen. Bretter und Baumaterial zählen auch zu beliebten Transportgütern, am besten gleich fünf Meter lange Bretter und davon dann 40 Stück, rechts und links am Fahrer entlang befestigt. Eine Steigerung erfährt die Aufzählung nun noch durch Gegenstände, die weitaus größer als die Fahrräder sind, bei denen man also das Fahrrad selbst nicht mehr sieht. Das sind zum Beispiel 20 Computerkisten auf einem Fahrrad, das mit ihnen eine Höhe von zirka drei Metern erreicht oder, und an dieser Stelle soll die Aufzählung ihr Ende finden, ein Bühnenteil, das fünf Meter hoch ist, drei Meter lang und 1,50 Meter breit - alles gesehen, letzteres allerdings nur von weitem, ich weiß also nicht, wie es überhaupt mit dem Fahrrad verbunden war. -

Es ist warm. Die Sonne scheint durch den graublauen Himmel, blau die Luft, grau die Abgase der Schornsteine und Autos in Chengdu.
Am linken Nebentisch sitzt ein Mädchen. Sie trägt ein Rosa-Wolljäckchen, eine weiße Hose, Rosa-Schuhe und einen plüschigen Wollpullover. Mit ihrem feinen, kosmetisch verschönerten Gesicht sieht sie fast aus wie eine Puppe. Seltsam, denke ich und glaube, daß sie in Deutschland mit ihrem Glitzersternchengesicht und glossigem Lippenstift wohl auf ablehnend sich wundernde Teenager stoßen würde. Aber das ist die moderne Jugend im heutigen China. Sie kleidet sich "westlich" und sieht dabei wie eine Barbiepuppe aus. Sie ißt eine seltsame Suppe, die ich nicht kenne, mit Nudeln, Gemüse und Fleisch aus einer etwas größeren Schale.
Der Wirt fragt mich, was ich essen möchte. Gerade so verstehe ich, was er fragt und murmle etwas von "Speisekarte?". Die Wirtin bringt die Speisekarte, ich schaue, wie wissend, hinein und suche mir bekannte Zeichen. "Zhurousi - Schweinefleisch in Streifen" zum Beispiel. Das kenne ich, da kann man nichts falsch machen. Das "Mala - betäubend scharf" kenne ich auch, da muß man aufpassen, sonst bekommt man einen Schreck, wenn man den ersten Happs nimmt. Ich übergehe mit interessiertem Blicke die ersten Seiten der Speisekarte, die die teureren Speisen preisen und widme mich ganz dem hinteren Teil.
Ja, "Shenme,shenme,shenme Cairousi" ("irgendwas, Gemüse, Fleischstreifen") - das muß wohl in Ordnung sein. Ich frage. Der Koch, hinter einer Scheibe, die die Küche vom eigentlichen Restaurantteil trennt, hält einen Strauß Gemüse hoch und ich erkenne - es nicht. Es sieht aus, wie große lange Spinatblätter.
Ich stimme zu.

Man bringt mir Tee, Stäbchen und fragt mich etwas. Ich verstehe nur etwas von Reis und sage, ja eine kleine Schale wäre gut. Man bringt mir eine kleine Schale. Weder ich noch die Chinesen wissen, was ich mit der kleinen Schale anfangen soll.
Ein Mann spricht mich an, woher ich käme. Ich frage zurück, was er wohl denke. Ich kann die erste Antwort gleich streichen, sie heißt immer und überall "Meiguo” - Amerika. Als zweites kommt "Yingguo” - England (GB), dann weiß er nicht mehr, möchte nicht raten. Ich verrate es ihm: "Deguo” - Deutschland Er freut sich. "Zuqiu” - Fußball ist das erste, was ihm einfällt. "Ja," sage ich, "kann man auch hier im Fernsehen anschauen."

Das Essen kommt. Die Wirtin fragt nun noch einmal nach, ob ich Reis wünsche. Ich verstehe und bejahe, ein Mann füllt meine kleine Schale mit Reis aus einem bereitstehenden Reiskochtopf. Der Mann hat sich inzwischen vor mich hingesetzt und fragt weiter. Wo ich studiere ("Sichuan Universität"), was ich studiere ("Wirtschaftschinesisch") und ob ich auch Zeichen lesen könne. Ich bejahe - er schiebt mir seine Visitenkarte herüber und will, daß ich lese. Ich denke, er möchte mir irgend etwas verkaufen, vielleicht ein heimlicher Geldtauscher, sie überreichen einem ihre Visitenkarte und man kann sie anrufen, wenn man etwas tauschen will. Oder Besitzer einer Disko, die potentielle Besucher ansprechen, speziell Ausländer, die dorthin kommen sollen. Vielleicht ist er der Besitzer hier?!? Ich frage ihn. Nein, er habe sich nur heißes Wasser für seinen Tee geholt, meint er. Es ist also nichts von alledem, er will mir nur seinen Namen zeigen. Ich muß lesen.
Das erste Zeichen kenne ich nicht, die anderen beiden schon. Er lacht. Jetzt die Adresse. Dann, was er arbeitet. Ich lese, verstehe nicht. Auf der Visitenkarte ist ein Haus im Hintergrund abgebildet. Ich frage, ob er Wohnungen vermietet. "Nein." Ich schaue in mein Wörterbuch. Irgend etwas mit Holz hat er zu tun. "Ja. Ja!" - er nickt. Auf seiner Karte steht "Jingli" - Manager.
Das ist hier fast jeder in China, geht man nach den Visitenkarten. Er sieht mich essen. "Ich geh dann mal," sagt er, nimmt sein Schraubglas mit Tee und wünscht noch guten Appetit. Ich wünsche etwas zurück und esse mein Fleisch mit Gemüse - es schmeckt kräftig.

Auf der anderen Straßenseite ist ein Fluß, "Fu Nan He". An seinem Ufer sitzen die Chinesen. Sie trinken Tee, reden, handeln, es ist ein bißchen Markt. Schuhe, Haushaltswaren, Essen, Getränke...
Ein Flötenspieler zieht seine Runde und bläst auf seinem Instrument. Keiner kauft seine Flöten, alle sind mit anderen Sachen beschäftigt. Ich höre sein Spiel gerade so aus den Straßengeräuschen heraus. Ich nehme mir vor, auch einmal chinesische Volkslieder spielen zu können. Eine Flöte habe ich schon gekauft.
Ein Klopfgeräusch dringt plötzlich herüber. Holz auf Holz. Zwei Wochen China und man weiß, was das heißt. Schuhputzer, meist ~innen. Manche nehmen ein paar Latschen mit, man kann im Restaurant sitzen mit den Latschen an und läßt derweil seine Schuhe draußen putzen - Hochglanz für 2 Kuai - Ausländerpreis - Chinesen zahlen halb so viel. Ich habe Turnschuhe an. So wie viele Jugendliche in China. Die sind wohl schwer zu putzen... Ich sinniere. Wird es diese um Aufmerksamkeit ringenden Putzer noch lange geben, mit ihren Bürsten auf ihre winzigen Holzhocker schlagend, auf die sie sich beim Putzen setzen? Sie durchkämmen Stadtteile, Straßenzüge, Gassen, Hinterhöfe, Restaurants.

Ich verwerfe meine Gedanken und bezahle mein Essen. Reis, einmal nachgefüllt mit "Cairousi - Gemüse mit Fleischstreifen". Macht 8 Kuai - 2 DM. Ich bin zufrieden. Vier Jugendliche betreten das Restaurant. Zwei Mädchen, zwei Jungen. Mißtrauisch, fragend schauen sie mich an. Ein Ausländer, der hier Tee trinkt... leicht erschöpft, aber zufrieden satt hängt er im Stuhl... an diesem Sonntag...
Es könnte aber auch Montag sein, höre ich mich denken. Oder Donnerstag. Markt ist jeden Tag, Verkehr, Menschen, Lärm - offene Geschäfte, reges Leben - jeden Tag.
Ich leere mein Glas und schwinge mich auf meinen alten Drahtesel. Hab ich hier gekauft, 80 Kuai hat er gekostet, wen's interessiert. Bremst schlecht, aber die Hupe ist gut und das ist hier wichtig. Also hinein in den lärmenden Verkehr. Hupende Autos, rußende Busse, ständig klingelnde Fahrradfahrer. Ich verschwimme im Dunst des sonntäglichen Abendverkehrs, tauche ein in die nach Hause flüchtenden Fahrradwalzen und Automassen
- bewege mich -
- langsam -
Richtung Universität...

jassmann 000918/001105

 

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