Es ist Sonntag Abend. Es hätte auch ein Montag
sein können oder ein Donnerstag.
Ich setze mich auf einen großen lackierten,
schmierigen Holzstuhl. Außer einem weiblichen Gast sind noch fünf
Bedienstete in diesem Restaurant, das wie eine Garage aussieht, nur
etwas größer, eine Garage für einen LKW vielleicht.
Nach vorne ist das große Tor geöffnet. Ich setze mich so,
daß ich auf die Straße sehen kann. Sie ist sechsspurig,
zwei Spuren für die Autos, eine Außenspur für Fahrräder.
Es herrscht reger Verkehr, Auto an Auto. Auch viele Fahrräder fahren
hier entlang. Oft sieht man auf den Gepäckträgern noch jemanden
sitzen, die Chinesen fahren gern zu zweit auf einem Fahrrad. Außerdem
passieren Fahrradtaxis (Rikschas) und Dreiradfahrradkarren das Restaurant,
die alles transportieren, was auf ein Fahrrad passen kann. -
Welche Gegenstände man dann manchmal auf diesen
Karren durch die Gegend fahren sieht, ist unvorstellbar. Und wenn es
nicht die Gegenstände selbst sind, dann ist es deren Anzahl auf
nur einem Fahrrad. Anfangen könnte man ganz harmlos mit Gemüse.
Interessanter sind allerdings schon Tiere, meist Hühner und Gänse.
Ihnen werden die Beine zusammengebunden und dann werden sie in Körben
zu Dutzenden, auf engstem Raume zusammengepfercht, durch die Gegend
gefahren und verkauft. Aber auch Bäume werden auf Fahrrädern
transportiert, große Bäume, die vorn und hinten und an den
Seiten herüberhängen. Bretter und Baumaterial zählen
auch zu beliebten Transportgütern, am besten gleich fünf Meter
lange Bretter und davon dann 40 Stück, rechts und links am Fahrer
entlang befestigt. Eine Steigerung erfährt die Aufzählung
nun noch durch Gegenstände, die weitaus größer als die
Fahrräder sind, bei denen man also das Fahrrad selbst nicht mehr
sieht. Das sind zum Beispiel 20 Computerkisten auf einem Fahrrad, das
mit ihnen eine Höhe von zirka drei Metern erreicht oder, und an
dieser Stelle soll die Aufzählung ihr Ende finden, ein Bühnenteil,
das fünf Meter hoch ist, drei Meter lang und 1,50 Meter breit -
alles gesehen, letzteres allerdings nur von weitem, ich weiß also
nicht, wie es überhaupt mit dem Fahrrad verbunden war. -
Es ist warm. Die Sonne scheint durch den graublauen
Himmel, blau die Luft, grau die Abgase der Schornsteine und Autos in
Chengdu.
Am linken Nebentisch sitzt ein Mädchen. Sie trägt ein Rosa-Wolljäckchen,
eine weiße Hose, Rosa-Schuhe und einen plüschigen Wollpullover.
Mit ihrem feinen, kosmetisch verschönerten Gesicht sieht sie fast
aus wie eine Puppe. Seltsam, denke ich und glaube, daß sie in
Deutschland mit ihrem Glitzersternchengesicht und glossigem Lippenstift
wohl auf ablehnend sich wundernde Teenager stoßen würde.
Aber das ist die moderne Jugend im heutigen China. Sie kleidet sich
"westlich" und sieht dabei wie eine Barbiepuppe aus. Sie ißt
eine seltsame Suppe, die ich nicht kenne, mit Nudeln, Gemüse und
Fleisch aus einer etwas größeren Schale.
Der Wirt fragt mich, was ich essen möchte. Gerade so verstehe ich,
was er fragt und murmle etwas von "Speisekarte?". Die Wirtin
bringt die Speisekarte, ich schaue, wie wissend, hinein und suche mir
bekannte Zeichen. "Zhurousi - Schweinefleisch in Streifen"
zum Beispiel. Das kenne ich, da kann man nichts falsch machen. Das "Mala
- betäubend scharf" kenne ich auch, da muß man aufpassen,
sonst bekommt man einen Schreck, wenn man den ersten Happs nimmt. Ich
übergehe mit interessiertem Blicke die ersten Seiten der Speisekarte,
die die teureren Speisen preisen und widme mich ganz dem hinteren Teil.
Ja, "Shenme,shenme,shenme Cairousi" ("irgendwas, Gemüse,
Fleischstreifen") - das muß wohl in Ordnung sein. Ich frage.
Der Koch, hinter einer Scheibe, die die Küche vom eigentlichen
Restaurantteil trennt, hält einen Strauß Gemüse hoch
und ich erkenne - es nicht. Es sieht aus, wie große lange Spinatblätter.
Ich stimme zu.
Man bringt mir Tee, Stäbchen und fragt mich etwas.
Ich verstehe nur etwas von Reis und sage, ja eine kleine Schale wäre
gut. Man bringt mir eine kleine Schale. Weder ich noch die Chinesen
wissen, was ich mit der kleinen Schale anfangen soll.
Ein Mann spricht mich an, woher ich käme. Ich frage zurück,
was er wohl denke. Ich kann die erste Antwort gleich streichen, sie
heißt immer und überall "Meiguo” - Amerika. Als
zweites kommt "Yingguo” - England (GB), dann weiß er
nicht mehr, möchte nicht raten. Ich verrate es ihm: "Deguo”
- Deutschland Er freut sich. "Zuqiu” - Fußball ist
das erste, was ihm einfällt. "Ja," sage ich, "kann
man auch hier im Fernsehen anschauen."
Das Essen kommt. Die Wirtin fragt nun noch einmal nach,
ob ich Reis wünsche. Ich verstehe und bejahe, ein Mann füllt
meine kleine Schale mit Reis aus einem bereitstehenden Reiskochtopf.
Der Mann hat sich inzwischen vor mich hingesetzt und fragt weiter. Wo
ich studiere ("Sichuan Universität"), was ich studiere
("Wirtschaftschinesisch") und ob ich auch Zeichen lesen könne.
Ich bejahe - er schiebt mir seine Visitenkarte herüber und will,
daß ich lese. Ich denke, er möchte mir irgend etwas verkaufen,
vielleicht ein heimlicher Geldtauscher, sie überreichen einem ihre
Visitenkarte und man kann sie anrufen, wenn man etwas tauschen will.
Oder Besitzer einer Disko, die potentielle Besucher ansprechen, speziell
Ausländer, die dorthin kommen sollen. Vielleicht ist er der Besitzer
hier?!? Ich frage ihn. Nein, er habe sich nur heißes Wasser für
seinen Tee geholt, meint er. Es ist also nichts von alledem, er will
mir nur seinen Namen zeigen. Ich muß lesen.
Das erste Zeichen kenne ich nicht, die anderen beiden schon. Er lacht.
Jetzt die Adresse. Dann, was er arbeitet. Ich lese, verstehe nicht.
Auf der Visitenkarte ist ein Haus im Hintergrund abgebildet. Ich frage,
ob er Wohnungen vermietet. "Nein." Ich schaue in mein Wörterbuch.
Irgend etwas mit Holz hat er zu tun. "Ja. Ja!" - er nickt.
Auf seiner Karte steht "Jingli" - Manager.
Das ist hier fast jeder in China, geht man nach den Visitenkarten. Er
sieht mich essen. "Ich geh dann mal," sagt er, nimmt sein
Schraubglas mit Tee und wünscht noch guten Appetit. Ich wünsche
etwas zurück und esse mein Fleisch mit Gemüse - es schmeckt
kräftig.
Auf der anderen Straßenseite ist ein Fluß,
"Fu Nan He". An seinem Ufer sitzen die Chinesen. Sie trinken
Tee, reden, handeln, es ist ein bißchen Markt. Schuhe, Haushaltswaren,
Essen, Getränke...
Ein Flötenspieler zieht seine Runde und bläst auf seinem Instrument.
Keiner kauft seine Flöten, alle sind mit anderen Sachen beschäftigt.
Ich höre sein Spiel gerade so aus den Straßengeräuschen
heraus. Ich nehme mir vor, auch einmal chinesische Volkslieder spielen
zu können. Eine Flöte habe ich schon gekauft.
Ein Klopfgeräusch dringt plötzlich herüber. Holz auf
Holz. Zwei Wochen China und man weiß, was das heißt. Schuhputzer,
meist ~innen. Manche nehmen ein paar Latschen mit, man kann im Restaurant
sitzen mit den Latschen an und läßt derweil seine Schuhe
draußen putzen - Hochglanz für 2 Kuai - Ausländerpreis
- Chinesen zahlen halb so viel. Ich habe Turnschuhe an. So wie viele
Jugendliche in China. Die sind wohl schwer zu putzen... Ich sinniere.
Wird es diese um Aufmerksamkeit ringenden Putzer noch lange geben, mit
ihren Bürsten auf ihre winzigen Holzhocker schlagend, auf die sie
sich beim Putzen setzen? Sie durchkämmen Stadtteile, Straßenzüge,
Gassen, Hinterhöfe, Restaurants.
Ich verwerfe meine Gedanken und bezahle mein Essen.
Reis, einmal nachgefüllt mit "Cairousi - Gemüse mit Fleischstreifen".
Macht 8 Kuai - 2 DM. Ich bin zufrieden. Vier Jugendliche betreten das
Restaurant. Zwei Mädchen, zwei Jungen. Mißtrauisch, fragend
schauen sie mich an. Ein Ausländer, der hier Tee trinkt... leicht
erschöpft, aber zufrieden satt hängt er im Stuhl... an diesem
Sonntag...
Es könnte aber auch Montag sein, höre ich mich denken. Oder
Donnerstag. Markt ist jeden Tag, Verkehr, Menschen, Lärm - offene
Geschäfte, reges Leben - jeden Tag.
Ich leere mein Glas und schwinge mich auf meinen alten Drahtesel. Hab
ich hier gekauft, 80 Kuai hat er gekostet, wen's interessiert. Bremst
schlecht, aber die Hupe ist gut und das ist hier wichtig. Also hinein
in den lärmenden Verkehr. Hupende Autos, rußende Busse, ständig
klingelnde Fahrradfahrer. Ich verschwimme im Dunst des sonntäglichen
Abendverkehrs, tauche ein in die nach Hause flüchtenden Fahrradwalzen
und Automassen
- bewege mich -
- langsam -
Richtung Universität...
jassmann 000918/001105
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